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Frog Blog

4.7.06, 00:21 Uhr

Philosophischer Rundumschlag

Der Einband des im Artikel beschriebenen Buches. Russell wirkt etwas elitär-abgehoben, so pfeiferauchend wie er sich dort abbilden lässt und in der Tat wurde ihm von seinen Kritikern Nähe zur Aristokratie vorgeworfen. Auch wenn er das nie abstritt, ist seine Philosophie alles andere als aristokratiefreundlich (siehe auch „The Praise of Idleness”).Man mag es meinem Blog ob der Vielzahl der Filmkritiken nicht ansehen, aber gelegentlich lese ich auch noch Bücher. Also diese zusammengehefteten Papierstapel mit den kleinen schwarzen Zeichen darin. Und einen besonders großen dieser Stapel habe ich vor ein paar Wochen endlich zu Ende gelesen: Die Philosophie des Abendlandes von Bertrand Russell. Bevor die Ersten ihren Mauscursor richtung X bewegen, möchte ich etwas über die Gründe dafür spekulieren: Obwohl es Aufgabe der Philosopen sein sollte, sich systematisch mit gewissen Fragen zu beschäftigen, argumentieren viele (natürlich bei weitem nicht alle) völlig am gesunden Menschenverstand vorbei (sei es der heutige gesunde Menschenverstand oder auch schon der gesunde Menschenverstand der damaligen Zeit). Meistens sucht man in der Philosophie jedoch Antworten auf Fragen, die einem der gesunde Menschenverstand oder die eigene Logik nicht beantworten können. Was man in der Regel nicht sucht, ist eine komplizierte Theorie, die einem im Wesentlichen erklärt, dass der eigene gesunde Menschenverstand überhaupt nichts mit der Realität (oder etwas anderem Wichtigen) zu tun haben kann. Das schafft Frustration und mag manche davon überzeugt haben, dass Philosophie nichts ist, was sie zu interessieren bräuchte.

Bertrand Russell ist nun so erfrischend, weil er zwar nicht mit dem gesunden Menschenverstand argumentiert und ihn auch nur sehr selten überhaupt erwähnt, aber es fehlt die Schere, die zwischen dem eigenen common sense und dem, was man liest, auseinandergeht. Dass er dabei hervorragend beobachtet, argumentiert und sehr schöne Ideen entwickelt, macht es nur umso erfreulicher, sich durch seine Texte zu lesen.

Wer sich nicht gleich durch das 850 Seiten starke Buch arbeiten will, kann sich ja einen kürzeren Aufsatz wie Why I am not a Christian, The Praise of Idleness, das etwas längere The Elements of Ethics oder einen anderen hier verlinkten Text durchlesen oder überfliegen. Wer wegen der atheistischen Haltung des ersten Textes in einen Abwehrreflex gerät, dem sei gesagt, dass ich bis weit über die Hälfte des Buches hinaus nicht sicher war, ob Russell religiös wäre oder nicht. Zwar konnte ich es mir wegen seiner sehr stark vernunftgeprägten Denkweise schlecht vorstellen, aber man weiß ja nie (was übrigens nicht heißt, dass er die Emotion verteufelt).

Aber ich werde mal zum Buch selbst kommen. Es ist eine „Geschichte des philosophischen Denkens”, wie Russell es selbst an einer Stelle nennt. Dabei wird die Idee umgesetzt, die Russell vertritt, dass Philosophie beziehungsweise Geisteshaltung einer Zeit und politische und soziale Umstände sich gegenseitig Beeinflussen. Um wirklich zu verstehen, warum eine Philosophie aufkam, muss man das Umfeld und die Zeit des Philosophen betrachten und viele politische Strömungen wurden nicht zuletzt durch gedankliche Vorarbeit in Form einer bestimmten Philosophie ermöglicht oder befördert. Oder um es mit seinen eigenen Worten aus dem Vorwort zu sagen:


In den meisten philosophischen Geschichtswerken steht jeder Philosoph gleichsam im luftleeren Raum, seine Ansichten werden zusammenhanglos dargestellt, bestenfalls wird eine Beziehung zu früheren Philosophen zugestanden. Ich hingegen habe versucht, jeden Philosophen, soweit mit der Wahrheit vereinbar, als Ergebnis seines Milieus, seiner Zeit- und Lebensumstände zu zeigen, als Menschen, in dem sich Gedanken und Empfindungen kristallisierten und verdichteten, die, wenn auch unklar und unkonzentriert, der menschlichen Gemeinschaft eigen waren, der er angehörte.


Dabei geht Russell nicht davon aus, dass sein Leser bereits über umfassendes geschichtliches Wissen verfügt und er geht natürlich auch nicht davon aus, dass man bereits großes philosophisches Vorwissen hat. In einer angenehmen Mischung aus geschichtlichen und philosophischen Erläuterungen wird dann die Geschichte Europas von seinen Anfängen im antiken Griechenland bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieben.

Der Stil ist Interesse erweckend und nicht selten sogar lustig und man merkt insbesondere, dass hier jemand schreibt, der selbst etwas zu sagen hat und nicht mechanisch die Erkenntnisse der letzten Jahrtausende wiedergibt. Dabei wird aber stets zwischen Vorstellung der Theorien und den Kommentaren dazu klar getrennt (wenn auch glücklicherweise nicht immer nach einem starren Schema wie „Vorstellung, Kommentar, Vorstellung, Kommentar...”). Die Kritik der philosophischen Modelle ist dabei messerscharf und gerne sehr pointiert. Und weil Russell Vertreter der „Philosophie der logischen Analyse”, wie er es nannte, war, sind sie immer sehr angenehm zu lesen und vor allem schwafelfrei. Es kam schon einmal vor, dass ich gerne über ein Argument diskutiert hätte, aber das war die Ausnahme, bei der Dicke des Buches nicht anders zu erwarten und Russell wäre wahrscheinlich der letzte gewesen, der behauptet hätte, dass seine Meinungen absolut und der Weisheit letzter Schluss seien. Und genau das macht sie brauchbarer als die Meinung derjenigen, die ihre Auffassungen für die ewige Wahrheit schlechthin halten.

Bei seiner Kritik anderer Philosophen verliert er nie aus den Augen, dass er es hier mit großen Köpfen zu tun hat, so sehr ihre Ansichten aus heutiger Sicht auch unhaltbar wirken mögen. Oder wie ich vor einer Weile in einem Gespräch mit Steve die Kritiken Russells kommentierte: „Es gab glaub ich noch keinen Philosophen, den er nicht in der Luft zerrissen hätte – allerdings oftmals mit sehr viel Hochachtung ;)” Um Russell wieder selbst zu Wort kommen zu lassen:


Will man einen Philosophen studieren, so ist die richtige Einstellung ihm gegenüber weder Ehrfurcht noch Geringschätzung, sondern zunächst eine Art hypothetischer Sympathie, bis man in der Lage ist, nachzuempfinden, was der Glaube an seine Theorien bedeutet; erst dann darf man ihn kritisch betrachten, und das möglichst in der geistigen Bereitschaft eines Menschen, der von seinen bisher vertretenen Ansichten unbelastet ist. Geringschätzung würden den ersten und Ehrfurcht den zweiten Teil dieses Vorganges beeinträchtigen. Zweierlei ist stets zu bedenken: dass man bei einem Mann, dessen Anschauungen und Theorien des Studiums wert sind, schon eine gewisse Intelligenz voraussetzen darf, dass es aber andererseits wahrscheinlich keinem Menschen gegeben ist, über irgendeinen Gegenstand die vollkommene und letzte Wahrheit erkennen zu können. Wenn ein intelligenter Mensch eine Ansicht vertritt, die uns offensichtlich unsinnig erscheint, sollten wir nicht zu beweisen suchen, dass doch etwas Wahres daran sei, uns vielmehr um die Einsicht bemühen, warum diese Anschauung jemals richtig erscheinen konnte. Diese Übung in historischer und psychologischer Einfühlung erweitert den Bereich unseres Denkens; außerdem können wir uns dann leichter vorstellen, wie töricht viele unserer eigenen, uns liebgewordenen Vorurteile einem Zeitalter von anderer geistiger Veranlagung erscheinen mögen.


Ich möchte einfach ein Beispiel anführen, knappe 600 Seiten später, wo Russell selbst so nett ist, uns ein Beispiel für eine potentiell törichte Haltung zu nennen, die momentan aber niemand auch nur in Zweifel zieht. Es geht grade um die Lehre von der erblichen Macht mit ein paar Auszügen eines Mannes namens Sir Robert Filmer, die einem modernen Leser sehr archaisch vorkommen müssen und bei denen man Probleme hat sich vorzustellen, wie tatsächlich jemand daran glauben konnte. In diesem Kontext bemerkt Russell:


Es ist merkwürdig, dass die Ablehnung des Erblichkeitsprinzips auf politischem Gebiet in demokratischen Ländern fast ohne Wirkung auf die wirtschaftliche Sphäre geblieben ist. [...] Wir halten es noch für natürlich, dass man seinen Besitz seinen Kindern hinterlässt; das heißt, wir erkennen im Prinzip Erblichkeit an, wo es sich um wirtschaftliche Macht handelt, lehnen es aber auf dem Gebiet der politischen Macht ab. Politische Dynastien sind verschwunden, wirtschaftliche jedoch existieren weiter. Ich spreche im Augenblick weder für noch gegen diese uneinheitliche Behandlung der beiden Machtformen; ich mache nur darauf aufmerksam, dass sie existiert und dass sich die meisten Menschen ihrer gar nicht bewusst sind.


Dass das Buch über den erhellenden Inhalt hinaus auch angenehm zu lesen ist, ist vor allem auch deshalb nicht anders zu erwarten gewesen, weil Bertrand Russell immerhin 1950 den Literaturnobelpreis erhalten hat.

Insgesamt also ein Buch, das ich jedem, der nicht bereits über eine umfassende Allgemeinbildung im philosophischen Bereich verfügt, nur dringend empfehlen kann, auch wenn ich sehr wohl weiß, dass es kein Buch ist, das man sich mal gerade so als Klolektüre zwischen zwei Fußballspielen reinpfeift. Aber wenn ihr die Zeit gefunden haben werdet, werdet ihr es nicht bereuen, da bin ich sehr sicher.

Leichter Tobak ist es aber oftmals nicht und deswegen empfehle ich jedem, seine Gehirnkapazitäten möglichst frei zu halten, indem er das Buch in seiner Muttersprache liest. Die Übersetzung, die ich hatte, ist leider nicht perfekt und vor allem schlecht korrekturgelesen, aber ich denke nicht, dass durch eine Übersetzung an sich groß Information verloren gehen (immerhin ist es kein literarisches Werk in dem Sinne) und wo es um Feinheiten der englischen Sprache geht, sind entsprechende Übersetzerkommentare vorhanden und es wurde auf eine Übersetzung der speziellen Begriffe verzichtet.