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Frog Blog

8.11.06, 15:53 Uhr

Gedanken unter Leuten III — Vernunftbegabtheit

Es gibt viele Wörter, die entgegen ihrer Funktion nicht halten, was sie versprechen, auf denen sozusagen nicht draufsteht, was drin ist. Das Wort „vernunftbegabt” mag ich hingegen sehr, weil es so ehrlich ist. Es verspricht genau das, was es bedeutet, nicht mehr und nicht weniger: Menschen sind vernunftbegabt. Eine Begabung ist etwas, das man nutzen kann... aber nicht muss.

In „Der Untergang des Abendlandes” (nein, ich habe den Schinken nicht gelesen) prophezeite Oswald Spengler 1918 schon ebendiesen und zwar, abgesehen von einem obstrusen, metaphysischen „kosmischen Zwang” hierzu, aus dem Grund, dass eine Kultur sich aus einer anfänglichen Phase der tiefen Religiosität hin zu einer Aufklärung entwickelt, einer Phase also, in der eine gebildete Minderheit Aberglauben und Unvernunft überkommt und die den Gipfel einer jeden Kultur darstellt, danach aber übergeht in eine „Zivilisation” genannte Phase des Friedens und des Verfalls, in dem die Irreligiosität der Mehrheit der Bevölkerung in einer zweiten Welle der Mystik endet, weil Rationalität nicht dauerhaft aufrecht erhalten werden kann bei einer breiten Masse.

Interessanterweise habe ich Ähnliches schon gedacht, bevor ich von dieser alten pessimistischen Theorie gehört habe. Ob ich das nun glaube, hängt von meiner aktuellen Stimmungslage ab. Das hier habe ich mir zur späteren Verwendung einmal notiert, offenbar in schlechter Stimmung:


Wie wird die zukünftige Geschichte über unsere Zeit schreiben? Ich denke wahrscheinlich gar nicht, nicht jedenfalls über die Freiheit, die wir hatten, sondern nur über die Macht der Wirtschaft und vielleicht das immer weitere Abnehmen der Freiheit  durch Maßnahmen der Politik. Zu kurz wird wirkliche Freiheit existent gewesen sein. Extrapoliert mal Schily und Schäuble über ein paar Jahrhunderte. Die Glanzzeit des römischen Reiches dauerte 200 Jahre. Die Demokratie und Stabilität in Europa, die wir als so normal und immerwährend empfinden, dauert bislang grade mal ein paar Jahrzehnte. Und schon wird sie in einer Geschwindigkeit demontiert, dass einem auch aus einer nicht-historischen Perspektive schwindelt.

Zu verführerisch ist auch dieser Vergleich mit alten Hochkulturen. Wahrscheinlich hätten selbst wir, auf die von Leben überquellenden und prachtvollen Straßen Roms zu seiner Blütezeit versetzt, Probleme uns vorzustellen, dass die Gebäude um uns herum in relativ kurzer Zeit zerfallen sein würden und mehr noch die fortgeschrittene Römische Kultur als solche fast in Vergessenheit geraten würde, in Rudimenten ins Christentum und die Arabische Welt gerettet.

Nun gucken wir uns unsere Bauten und unsere Ideale an und können uns nicht vorstellen, warum all das in 100 oder 200 Jahren nicht mehr sein soll? „Die Deutschen jammern zuviel”, habe ich vor einiger Zeit einen Deutschen jammern gehört. Jammern über die Zersetzung der Demokratie durch Lobbyismus, Ungleichheit und Überwachung? Kein Jammern könnte laut genug sein hierüber und ich höre es kaum! Wie prophezeit zerfleischt sich die Aufklärung selbst. Gewiss gab es auch Römer, die die richtigen Schritte gekannt haben, die den Untergang verhindert hätten, so es etwas zu verhindern gab. Aber ihr Jammern ist heute nicht mehr zu hören, so wie das Jammern der Besserwisser und Pessimisten heutzutage kaum zu hören ist. Das glanzvolle Römische Imperium war noch zu seiner Blütezeit ein Zombie: tot, ohne zu merken, dass es tot ist. Wir merken auch nix, vielleicht ist es sogar der Glanz, den eine Hochkultur mit sich bringt, ihr eigenes Verderben. Niemand kann sich von diesem Glanz geblendet vorstellen, dass es so bald vorbei sein soll damit.

Spengler nannte es das Schwinden der kulturfähigen Bevölkerung. Ich nenne es das Bundesverfassungsgericht auf wackligen Beinen, das immer und immer wieder Politik korrigieren muss, die nicht nur gegen den Geist, also gegen die Ideen und Leitlinien, der Verfassung verstößt sondern auch gegen die harten Grenzen, die dieses Grundgesetz steckt. Die Medien und die Bevölkerung, die hierauf nicht mit „Skandal!”-Rufen reagieren, sondern mit Indifferenz, Gleichgültigkeit und Desinteresse.

Ich habe auch mal gedacht, dass die Demokratie der Ausweg sein kann aus dem ewigen Auf und Ab der Hochkulturen. Aber wahrscheinlich dachte das jede Hochkultur von sich. Aber ich sehe keine Kraft, die das Ruder herumreißen könnte. Einzig das Volk und das Volk selbst ist nur Marionette der Einflüsse, die es dazu bringen, unsere Hochkultur ins Verlöschen zu steuern.

Versteht mich nicht falsch, ich will nicht „Wir werden alle sterben!” rufen. Aber unsere Prinzipien sterben vor unseren Augen und niemanden juckt's. Ich weiß nur nicht recht, wo das hinführen soll, wenn nicht in eine langsame oder auch schnellere Degeneration, solange eine nennenswerte Gegenbewegung ausbleibt.

2 Comments:

  • Hallo Christian,

    entschuldige erstmal bitte, dass jede Reaktion auf deine so schöne Vorlage so lange ausblieb. Weltliche Affären.

    Der Argumentationslinie, die Spengler und du entwickeln, kann man sich ja kaum entziehen: Zu offensichtlich ist der Verfall der zentraleuropäischen Gesellschaften. Und, wenn ich das mal kurz beitragen darf, ich habe im "neuen" Europa (Irland, Polen, sonstiges Osteuropa) nichts gesehen, was den Errungenschaften der Moderne auf Augenhöhe entgegentreten könnte. Über die USA brauchen wir ja gar nicht erst reden.

    Ich habe neulich eine ungewöhnlich interessante Ausgabe des philosophischen Quartetts gesehen, in der ein recht bekannter Philosoph seine These der "wütenden jungen Männer" ausbreitete: Fortschritt vollziehe sich vor allem durch Gewalt und Revolutionswillen, und Gewalt werde vor allem von Testosteronüberschuss ausgelöst. Dieser Testosteronüberschuss mache sich allerdings nur in besonders starken Jahrgängen bemerkbar, da die Männer schwacher Jahrgänge größtenteils auf gute, bald durch den Tod der Älteren freiwerdende Positionen in der Gesellschaft hoffen können, während Angehörige starker Jahrgänge kaum mehr als ihre Ketten zu verlieren haben.

    Dieser Mensch stützte seine These empirisch mit einer ungeheuren Korrelation zwischen Aufschwüngen (wirtschaftlichen, militärischen oder kulturellen) und dem Vorhandensein solcher starken Jahrgänge. Die Sendung ist recht interessant, wenn jemand möchte, kann ich sie mal auf CD bannen.

    Um von diesem Lemma wieder zum Satz zu kommen: Es ist nicht die "zweite Welle der Mystik", die Hochkulturen umbringt. Es ist ihre relative Stabilität, die auf dem Wege einer stabilen Generationsfolge Veränderungen verhindert. Die Rationalität bleibt auf hohem Niveau erhalten, doch notwendige gesellschaftliche Veränderungen werden nicht vorgenommen. Wir sehen es an unserer heutigen Gesellschaft – unser Wissen wächst exponentiell, aber unser Wirtschafts- und Politsystem ist immer noch das der Frühmoderne. Ohne Fortschritt aber sackt man in die Dekadenz, die du schon eindringlich beschrieben hast. Es ist wie mit dem Sumpfläufer – vorwärts oder ersaufen.

    Das Schöne an diesem alternativen Erklärmodell ist aber, dass es die nietzscheanische Kamellöwenkindthese stützt: Jede hinreichende kulturelle Degeneration führt automatisch zu einer Bevölkerungsexplosion, spätestens, wenn das Christentum wieder populärer wird. (Wir erinnern uns - die Bevölkerungsexplosion nach der Pest wurde maßgeblich davon unterstützt, dass die Hebammenkultur des Mittelalters unter Hexentumsanklage auf dem Scheiterhaufen landete.) Bevölkerungsexplosion bedeutet aber Fortschritt – diesen muss man dann nur noch nutzen. Die Kultur regeniert sich nach diesem Scheitern also, und bis jetzt lehrte uns die Geschichte, dass in der Reihe Ägypten->Klassische Antike->Mittelalter->Neuzeit das geistig-kulturelle Niveau monoton anstieg. Bis auf den einen Messfehler MA, aber irgendwas ist ja immer.

    Um zum letzten Punkt zu kommen: Die Demokratie wird dieses Problem beheben, weil sie die verändernde Energie der jungen Generation in revolutionsfreie Bahnen lenken kann. Nur haben wir keine Demokratie, wenn man den Begriff "demos" irgendwie anders fassen möchte als "Parteiführung". Ein Rechtsstaat existiert (noch) in Deutschland, zugegeben; aber eine Demokratie nicht.

    Schönen Gruß, Steve

    By Anonymous Anonym, at 17/11/06 18:14  

  • Der Argumentationslinie, die Spengler und du entwickeln, kann man sich ja kaum entziehen: Zu offensichtlich ist der Verfall der zentraleuropäischen Gesellschaften. Und, wenn ich das mal kurz beitragen darf, ich habe im "neuen" Europa (Irland, Polen, sonstiges Osteuropa) nichts gesehen, was den Errungenschaften der Moderne auf Augenhöhe entgegentreten könnte. Über die USA brauchen wir ja gar nicht erst reden.

    Nun ja, Spengler insbesondere beschränkt sich keineswegs auf Europa und rechnet die USA kurzerhand dem westlichen Kulturkreis hinzu. Darüber hinaus möchte ich daran erinnern, dass die USA immerhin so Kleinigkeiten beigetragen haben, wie die Erfindung der modernen Demokratie (die du weiter unten noch diskreditieren wirst).

    Ich habe neulich eine ungewöhnlich interessante Ausgabe des philosophischen Quartetts gesehen, in der ein recht bekannter Philosoph seine These der "wütenden jungen Männer" ausbreitete: Fortschritt vollziehe sich vor allem durch Gewalt und Revolutionswillen, und Gewalt werde vor allem von Testosteronüberschuss ausgelöst. Dieser Testosteronüberschuss mache sich allerdings nur in besonders starken Jahrgängen bemerkbar, da die Männer schwacher Jahrgänge größtenteils auf gute, bald durch den Tod der Älteren freiwerdende Positionen in der Gesellschaft hoffen können, während Angehörige starker Jahrgänge kaum mehr als ihre Ketten zu verlieren haben.

    Ich muss ja sagen, dass ich äußerst skeptisch gegenüber allen Arten von biologistischen Erklärungsansätzen geworden bin. In so ziemlich allen Fällen waren das bisher entweder „natürliche” Rechtfertigungen für anderweitig erworbene Meinungen oder aber einfach nur einfache Antworten auf komplizierte Fragen. Und letzteres geht an sich schon fast immer schief, gerade in der Philosophie.

    In diesem Fall klingt es auch ganz nach dem zweiten Fall. Die Psyche eines einzelnen Menschen ist schon sehr schwer auf seine Hormone zurückzuführen oder gar zu reduzieren. Bei grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen durch irgendein C19H28O2 umfassend zu erklären klingt ehrlich gesagt nicht seriös. Egal wie bekannt der Philosoph ist, de umfassend zu erklären klingt ehrlich gesagt nicht seriös. Egal wie bekannt der Philosoph ist, der die „angry young men” da aufgegriffen hat.

    Dieser Mensch stützte seine These empirisch mit einer ungeheuren Korrelation zwischen Aufschwüngen (wirtschaftlichen, militärischen oder kulturellen) und dem Vorhandensein solcher starken Jahrgänge. Die Sendung ist recht interessant, wenn jemand möchte, kann ich sie mal auf CD bannen.

    Das wäre auf alle Fälle nett.

    Um von diesem Lemma wieder zum Satz zu kommen: Es ist nicht die "zweite Welle der Mystik", die Hochkulturen umbringt. Es ist ihre relative Stabilität, die auf dem Wege einer stabilen Generationsfolge Veränderungen verhindert. Die Rationalität bleibt auf hohem Niveau erhalten, doch notwendige gesellschaftliche Veränderungen werden nicht vorgenommen. Wir sehen es an unserer heutigen Gesellschaft – unser Wissen wächst exponentiell, aber unser Wirtschafts- und Politsystem ist immer noch das der Frühmoderne. Ohne Fortschritt aber sackt man in die Dekadenz, die du schon eindringlich beschrieben hast. Es ist wie mit dem Sumpfläufer – vorwärts oder ersaufen.

    Das wiederum ist eine These, die ich sehr plausibel finde. Allerdings kann ich mir gut vorstellen, dass so etwas wie der Untergang einer Hochkultur nicht monokausal ist.

    Das Schöne an diesem alternativen Erklärmodell ist aber, dass es die nietzscheanische Kamellöwenkindthese stützt: Jede hinreichende kulturelle Degeneration führt automatisch zu einer Bevölkerungsexplosion, spätestens, wenn das Christentum wieder populärer wird. (Wir erinnern uns - die Bevölkerungsexplosion nach der Pest wurde maßgeblich davon unterstützt, dass die Hebammenkultur des Mittelalters unter Hexentumsanklage auf dem Scheiterhaufen landete.) Bevölkerungsexplosion bedeutet aber Fortschritt – diesen muss man dann nur noch nutzen. Die Kultur regeniert sich nach diesem Scheitern also, und bis jetzt lehrte uns die Geschichte, dass in der Reihe Ägypten->Klassische Antike->Mittelalter->Neuzeit das geistig-kulturelle Niveau monoton anstieg. Bis auf den einen Messfehler MA, aber irgendwas ist ja immer.

    Naja. Das Niveau stieg deshalb an, weil nach dem Verfall einer Kultur nicht alle Errungenschaften flöten gingen. Das Mittelalter war deshalb so rückständig, weil sich wenige für die antike Kultur interessiert haben. Das Argument mit dem Bevölkerungsanstieg klingt sehr gesucht. Zumal

    Das mit dem Erhalten der Kulturleistungen war übrigens viele Male sehr knapp. Alexander hat die griechische Kultur wahrscheinlich vor dem Vergessen bewahrt, die katholische Kirche und vor allem die Araber dann ein paar Jahrhunderte später noch einmal.

    Ich bin auch der Ansicht, dass es so gut wie ausgeschlossen ist, dass die westliche Kultur komplett ausstirbt. Vor allem das wissenschaftliche Denken ist eine Errungenschaft, die ihren praktischen Nutzen weltweit bewiesen hat, keine Kultur wird dauerhaft darauf verzichten wollen.

    Auf der anderen Seite betrachte reiche Ölstaaten im arabischen Raum, die so gut wie keine eigene Forschung betreiben, sondern nur deren technologischen Ergebnisse aus Europa, den USA und Japan konsumieren. Und dass Kultur nicht nur aus Wissenschaft besteht, machen solche und andere aufstrebende Staaten erst recht deutlich. In Saudi-Arabien gibt es die Todesstrafe für Homosexualität, in Indien die Mitgift, in China kein Recht auf freie Meinungsäußerung. Und das sind ja nur Symptome für einen Mangel an aufklärerischer Haltung in der Bevölkerung. Genau wie die von mir beschriebenen Zeichen eines möglichen Verfalls ein Zeichen für einen solchen Mangel in der europäischen und US-amerikanischen Bevölkerung sind.

    Um zum letzten Punkt zu kommen: Die Demokratie wird dieses Problem beheben, weil sie die verändernde Energie der jungen Generation in revolutionsfreie Bahnen lenken kann. Nur haben wir keine Demokratie, wenn man den Begriff "demos" irgendwie anders fassen möchte als "Parteiführung". Ein Rechtsstaat existiert (noch) in Deutschland, zugegeben; aber eine Demokratie nicht.

    Klingt, als benutztest du Rousseaus Definition von „Demokratie”. Um dabei zu bleiben, möchte ich unsere Wahlaristokratie in sofern verteidigen, als dass ich auch denke, dass Demokratie nach der Definition weder praktikabel ist in jedem System größer als ein griechischer Stadtstaat (was nicht bedeutet, dass ich gegen Plebiszite auf Bundesebene bin), noch irgend ein Problem der Wahlaristokratie lösen könnte. Wann genau glaubst du denn, dass unser Land von einem Schwung wütender junger Männer heimgesucht wird? Und warum glaubst du, dass die eine Mehrheit hätten? Das Problem ist ja die fehlende Resistenz nichtaufgeklärter Bevölkerungsgruppen gegen Manipulation seitens der Aristokratie, die sich zu ihrer eigenen Wiederwahl verhelfen will. Naja, das eigentliche Problem ist, dass die Aristokratie selbst verblendet genug ist, eine Ideologie (Mystik?) zu schlucken, die sie nicht hinreichend auf ihre Integrität und die zu erwartenden Folgen prüft. Waren die 68er nicht eine solche Bewegung (ok, es waren wütende junge Männer und Frauen)? Und haben sie auf parlamentarischem Wege etwas erreicht? Die Grünen krebsen doch noch heute bei 10%. Und schließlich, „revolutionsfreie Bahnen”? Ich habe keine Angst vor einer Revolution. Ich habe eher Angst vor keiner!

    By Blogger mudd1, at 22/11/06 10:25  

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