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Frog Blog

3.8.06, 22:59 Uhr

Viele Begegnungen

Heute habe ich den Versuch unternommen, die Leute zu treffen, die ich hier im Dorf noch so kenne und ewig nicht gesehen habe. Zuerst war das mein Freund aus Grundschulzeiten René, dessen Mutter meinen Großeltern erzählt hatte, dass er momentan im Lande ist. Ich bin also nach unserem Mittagessen da hin und seine Mutter hat mir auch aufgemacht, allerdings musste sie mir mitteilen, dass er unterwegs sei und erst zum Mittagessen wieder da wäre („mir esse um zwölf”, andere Familien nicht).

Ich bin dann also durch den aufgekommenen Schauer wieder zurückgestapft (das Haus liegt nur gut 100 m entfernt, ging also, vor allem mit Schirm) und habe meinem Opa eine Freude gemacht, indem ich mit ihm auf VHS überspielte Super-8-Filme geguckt habe. Leider hat mein Opa die Angewohnheit, immer ausführlich zu kommentieren, wer gerade zu sehen ist (was man schnell selbst erkennt) und wer von den zu sehenden Freunden schon tot ist (was morbide wirkt), aber keine Geschichten und Anekdoten zu den Bildern zu erzählen (was interessant wäre).

Den Vormittag hatte ich übrigens schon damit verbracht, ihm den Umgang mit dem neuen Videorecorder beizubringen. Der kann ShowView, was der ursprünglichen Idee nach auch meinem Opa ermöglichen sollte, Aufnahmen zu programmieren. Leider kamen wir in den circa zwei Stunden nicht über die Direktaufnahme des laufenden Programms hinaus. Jeder Informatiker sollte einmal im Leben meinem Opa die Bedienung eines technischen Gerätes erklärt haben. Danach sieht man Benutzeroberflächen mit anderen Augen.

Wobei dieser Videorecorder noch dazu tatsächlich eine Katastrophe war, was das anging. In Teilen des Menüs kam man mit den Hoch-/Runtertasten nach oben und unten, in anderen hat man damit die Werte verstellt und die sonst dafür vorgesehenen Links-/Rechtstasten bewegten die Markierung hoch und runter. Bravo, da hat sicher jemand stundenlang am Schreibtisch gesessen für. Aber wie gesagt, bis zu dieser Stolperfalle kamen ich gar nicht erst mit meinem Opa. Den Namen des Videorecorderherstellers habe ich mich leider nicht gemerkt, aber er stand auch nicht sehr groß irgendwo dran. Manchmal ist No-Name also doch nicht so das Wahre.

Nach den Filmen gab es dann Schwarzwälder Kirschtorte von meiner Oma, nachdem wir den ersten Kuchen vom Dienstag schon vernichtet hatten. Lecker! Hab gleich vier Stücke gegessen. Früher hab ich auch schonmal über eine halbe Torte auf einmal verputzt, aber man wird wohl auch nicht jünger.

Danach bin ich bei strahlendem Sonnenschein wieder zu René und diesmal hat lange niemand aufgemacht und dann sein Vater, der immer eine angenehme Gemütlichkeit ausgestrahlt hat und mir nun im Bademantel an die Tür geschlurft kam, um mir mitzuteilen, dass René nun wieder weg wäre, weil er leider eine Verabredung gehabt hätte, aber dass er bei mir vorbeischauen würde. Na dann warte ich mal ab, wann er eine Lücke im Terminkalender hat =)

Dann bin ich wieder kurz zuhause vorbei und habe meine Oma gefragt, ob sie Einwände hätte, wenn ich einen Teil der Torte zu den Nachbarn entführte. Mit deren Sohn Jonas hatte ich nämlich auch immer einen guten Kontakt, wenn ich hier unten war und außerdem ist die ganze Familie recht angenehm und kultiviert. Mein Opa hasst sie, aber im Gegensatz zu meiner Oma, die sich davon ihr eigentlich gutes Verhältnis zur Nachbarin einschränken lässt, war mir das ziemlich schnurz. Ich habe also drei Stücke Torte rübergetragen und Jonas' Mutter gleich vor der Tür angetroffen, wo sie den Bewuchs aus der Abflussrinne am Bordstein entfernte, weil sie sich nicht die Schmach vom letzten Jahr geben wollte, wo der Nachbar von gegenüber ihre ganze Rinne gesäubert hatte. Nur auf die lobende Anerkennung musste er lange warten, weil sie das einfach nicht bemerkt hatten. Mir wäre es jetzt auch nicht aufgefallen, dass die eine Hälfte der Rinne schon anders aussah als die andere, aber ich hab wohl einfach noch nicht die richtigen Nachbarn gehabt.

Jonas war wie erwartet nicht da, aber wir haben uns eine lange Weile sehr nett unterhalten und der Kuchen kam erwartungsgemäß gut an.

Ich bin dann direkt weiter zur dritten und letzten Station, zu einem Freund, der ebenfalls noch aus Grundschulzeiten stammt und den ich noch länger nicht gesehen hatte als René. Benedikt wohnt ganz oben im Dorf und ich hatte vergessen, wie Steil der Hunsrück ist. Zumindest im Vergleich zu Bielefeld und zu Paris erst recht. Ich bin froh, dass ich in Deutschland mit Sport anfange.

Da machte mir völlig unerwartet ein kleiner Junge auf, was schon an den rennenden Schritten hinter der geschlossenen Tür zu erkennen war. Darauf war ich nun gar nicht vorbereitet, aber der Kleine war es wohl schon gewohnt, völlig Unbekannte an der Tür anzutreffen und bat mich erstmal mit einer Geste rein. Eine Einladung der Eltern wäre mir lieber gewesen, aber was soll's. Den Flur entlang im Wohnzimmer sah ich dann Erwachsene und fragte unbeholfen: „Äh, ist Benedikt da?” Woraufhin ein auch etwas unbeholfenes „Nein... kommen Sie doch erstmal rein!” gerufen wurde. „Ja, ich... äh, zieh erstmal die Schuhe aus.” Das musste man nämlich da immer tun, an der Tür die Schuhe ausziehen.

Ich traf dann Benedikts Mutter an und seinen Vater, der ein klitzekleines Minikind auf dem Arm hatte. Die meinten meinen Namen noch vage zu kennen, mein Gesicht allerdings gar nicht mehr. Dann kam noch Benes Schwester aus der Küche gestürmt und die Mutter fragte die erstmal, ob sie mich noch einordnen könnte. Ich erwiderte den prüfenden Blick nervös wie in die Kamera einer biometrischen Kontrolle grinsend und dachte bei mir nur: „Benedikt hat eine Schwester?!” Tja, wohl nicht nur das, sondern dank ihr auch noch zwei Neffen. Um Himmels Willen. Und dabei sah die nicht viel älter aus als ich. So wie Transsexuelle als Frauen in einem männlichen Körper gefangen sind oder umgekehrt, bin ich in einem zu alten Körper gefangen. Alle um mich herum gründen Familien und so Sachen, da komm ich nicht drauf klar. Vielleicht liegt das nur daran, dass meine Schulzeit sozial so verpfuscht war, aber ich komme mir vor, als hätte ich ein Jahrzehnt verpennt.

Jedenfalls war das ganz kleine Kind erst drei Wochen alt, zumindest seiner Mutter zufolge. Sein Bruder legte vehement Widerspruch ein und sagte, es wären schon vier, aber ich glaube einfach mal der Mutter in dem Fall. Ich nehme an, dass sie da die eindringlicheren Erinnerungen hat.

Wir haben dann bestimmt anderthalb Stunden da gesessen und uns unterhalten, wobei ich rausgefunden habe, dass Benedikt momentan in Asien ist, um die Seidenstraße mit dem Fahrrad nachzufahren, angefangen in Tadschikistan, das Ziel kommt auf die Kulanz der chinesischen Grenzer an. Pässe von 4000 Metern Höhe – ich hoffe, er ist nicht gedopt. Vielleicht wird er in Gutweiler sein, wenn ich im Oktober wieder hier herunterkomme, das wäre wirklich schön. Aber bis dahin konnte ich mal einen Teil seiner Familie ein bisschen besser kennenlernen. Auch ausgesprochen nette, interessante und vor allem angenehme Menschen. Und ich weiß noch, dass ich Benedikt früher schon um das Umfeld beneidet habe, in dem er großgeworden ist.

Auf dem Weg nach draußen habe ich mir natürlich wieder meine Schuhe angezogen, die ich in alter Gewohnheit beim Reinkommen ausgezogen hatte und Benes Vater fragte vorsichtig, ob es bei ihnen früher so üblich gewesen wäre, dass ich das so ganz automatisch gemacht hätte. Eigentlich würden sie das ihren Gästen ja nicht mehr abverlangen, aber er wäre selbst so verwirrt gewesen am Anfang, dass er nichts gesagt hätte. Ich musste sehr grinsen :)

Irgendwie ist es aber schon ein sehr seltsames und aufregendes Gefühl, so lange nicht besuchte Orte und Menschen wieder aufzusuchen. Das ist ein ganz besonderer Nervenkitzel aus Erinnerungen und dieser „Was hat sich verändert?”-Erwartung. Und davon hatte ich eine Menge dieser Tage.

Auf dem Rückweg habe ich dann auch noch Jonas' Vater getroffen und mich kurz mit ihm unterhalten. Alles in allem ein sehr schöner und ereignisreicher Tag, auch wenn ich keine der erhofften Personen angetroffen habe.

PS: Ha, und Benes Schwester war zu Schulzeiten mit einem Bielefelder zusammen und kannte die Stadt daher ein bisschen. Und ihr Freund war auf demselben Gymnasium wie ich. Hammer klein die Welt!

Nachtrag: Zu der Videorecordersache fällt mir noch ein: Die konsequente Ersetzung im Trierer Raum von „nehmen” durch „holen” erstreckt sich nicht nur auf das Abholen von Gewicht bei einer Diät („Isch hab allein letzt Woch 10 Pfund abgeholt!”) und Wortneuschöpfungen wie „mitholen”, sondern, wie ich nun hören musste, auch auf das Aufholen von Fernsehsendungen. Interessanterweise sind es aber trotzdem noch „Aufnahmen” und keine „Aufholungen” oder dergleichen. Nichtsdestotrotz würde ich gerne mal einen Trierer Historiker hören, ob der auch Schätzchen produziert wie: „Diese Festung wurde während ihrer ganzen Geschichte kein einziges Mal eingeholt.” Möglich erscheint es mir inzwischen.

2. Nachtrag: Ich wurde darauf aufmerksam gemacht, dass der letzte Satz in Klammern des ersten Absatzes mindestens missverständlich ist. Ich zitiere nicht die arme Mutter meines Freundes sondern den Becker Heinz aus der fast gleichnamigen Fernsehserie. Denn meine Oma ist es, die mit bald furchteinflößender Pünktlichkeit um Schlag zwölf Uhr das Essen auf dem Tisch stehen hat. In der Form kenn ich das sonst eben nur aus dem Fernsehen. Und es war immer so, dass ich nach dem Mittagessen zu Réne ging und dann genau in deren Mittagessenszeit reinrasselte.